Conference Report: Modern Times – Zeiten der Stadt (German)

Beate Binder, Institut für Europäische Ethnologie, Humboldt-Universität
zu Berlin; Sabine Fastert, Institut für Geschichte und Kunstgeschichte,
Technische Universität Berlin; Volker Hess, Institut für Geschichte der
Medizin, Charité Berlin
25.02.2010-27.02.2010, Berlin

Bericht von:
Hanno Hochmuth, Friedrich-Meinecke-Institut, Freie Universität Berlin
E-Mail: <hochmuth@zedat.fu-berlin.de>

Kulturen des Wahnsinns bilden das Erkenntnisinteresse der gleichnamigen
interdisziplinären DFG-Forschergruppe 1120 aus Berlin. Dabei geht es den
beteiligten Sozial- und Kulturwissenschaftler/innen sowie Kunst- und
Medizinhistoriker/innen weniger um klinische Phänomene als vielmehr um
Schwellenräume, in denen sich das moderne Verständnis von Wahnsinn in
seinen diskursiven, institutionellen und medialen Dimensionen
entfaltete. Dieser Prozess, so die Grundannahme der Forschergruppe, war
konstitutiv für die Entwicklung der modernen Großstadt zwischen 1870 und
1930. Für ihren ersten Workshop luden sie daher Ethnologen und
Ethnologinnen, Kultur- und Medienwissenschaftler/innen,
Kunsthistoriker/innen und Historiker/innen ein, um mit ihnen über die
modernen Zeiten der Stadt und Schwellenphänomene des Wahnsinns zu
diskutieren.

Im ersten Panel ging es um populäre Vergnügungsformen und um
Kontrollversuche zu deren Einhegung, die uns heute mitunter selbst als
hegemonialer Wahn erscheinen. KASPAR MAASE (Tübingen) demonstrierte,
dass die bildungsbürgerlichen Kampagnen gegen Schmutz und Schund vor
allem Kämpfe gegen die öffentliche Sichtbarkeit “disziplinlosen Wissens”
waren. Die Schreckfigur vieler Pädagogen und Reformer waren daher Kinder
vor Schaufenstern mit “gefährlichen” Auslagen. Ähnliches galt auch für
Frauen im Kino, wie SUSANNE BUSINGER (Zürich) in ihrem Paper zu den
Kinematographen und Animierbars der katholisch-konservativen Kleinstadt
Luzern beschrieb, in der sie vergleichbare Ängste und
geschlechterspezifische Zuschreibungen ausmachen konnte wie in der
zeitgenössischen Großstadt. EVA KRIVANEC (Wien) fragte nach der
Populärkultur im Ersten Weltkrieg und zeigte, dass trotz neuer
Zeitstrukturen die Vielfalt der populären Vergnügungen im Prinzip
erhalten blieb. Während der Krieg auf den Bühnen von Paris, Berlin und
Wien zunächst noch stark thematisiert wurde, überwogen bald jedoch die
Frei-Zeiten vom Krieg in Gestalt eskapistischer Operetten.

Fragen der Sichtbarkeit bildeten die Klammer des zweiten Panels. NINA
SCHLEIF (München) und CHRISTOF WINDGÄTTER (Wien/Berlin) unterzogen das
Schaufenster einer medien- und kunsthistorischen Reflexion. Es habe
sowohl zu einer Stabilisierung als auch zu einer Destabilisierung des
modernen Subjekts geführt. Den Wahnsinn im Spiegel des Schaufensters
illustrierten sie schließlich mit Bildern aus Fritz Langs “M – Eine
Stadt sucht einen Mörder”. BARBARA KNORPP (London) untersuchte in ihrem
Paper ethnologische Museen um 1900 und fokussierte auf
Ausstellungsweisen und die Reaktionen der Betrachter. Hier ließen sich
Parallelen zwischen den Schaufenstern und den Museumsvitrinen ausmachen.
Beide Medien de-kontextualisierten und kaschierten zudem aber auch
Aspekte der Ausbeutung durch Kapitalismus und Kolonialismus, wie SOPHIA
KÖNEMANN (Berlin) in ihrem Kommentar kritisch ergänzte.

Das dritte Panel beschäftigte sich mit Kontinuitäten und Brüchen
bürgerlicher Großstadtkritik. AVI SHARMA (Chicago) beschrieb am Beispiel
der Licht-Luft-Bäder und der Lebensreformer im Wilhelminischen
Deutschland zwei produktive Reaktionen auf den Topos der degenerierten
Großstadt. Dabei betonte er wie zuvor schon Kaspar Maase, dass die
Reformbewegung keineswegs mit einer kulturpessimistischen Modernekritik
gleichzusetzen sei, bis der Erste Weltkrieg hier einen entscheidenden
Bruch bewirkt habe. Dagegen spannte STEFFEN KRÄMER (München) einen
großen Bogen von den frühen psychiatrischen Entartungstheorien Bénédict
Augustin Morels aus dem Jahre 1857 über Oswald Spengler und Alfred
Rosenberg bis hin zu den Vordenkern der aufgelockerten Stadt nach dem
Zweiten Weltkrieg. Allen habe die dramatische Wohnsituation in den
europäischen Großstädten zu Zeiten der Hochurbanisierung als Hintergrund
für ihre Entartungstheorien gedient. In der Diskussion wurde jedoch
angemahnt, dass der Begriff der Entartung durchaus einem historischen
Wandel unterlag und dass es entscheidend darauf ankomme, den Zeitpunkt
seiner Biologisierung zu bestimmen.

Die Vortragenden des vierten Panels befassten sich im weitesten Sinne
mit Prozessen der Modernisierung und Rationalisierung. DANIEL MORAT
(Berlin) fragte nach den Klanglandschaften der modernen Großstadt und
untersuchte zeitgenössische Reaktionen auf die Technisierung des
Auditiven. In Anschluss an Walter Benjamin und Georg Simmel skizzierte
er zwei gegensätzliche Bedeutungen akustischer “Innervation” um 1900:
zum einen den krankmachenden Lärm, zum anderen den abhärtenden und
mitunter stimulierenden Lärm der Großstadt. Im Paper von JOANNA KUSIAK
(Warschau) rückten die Säulenheiligen der Metropolenforschung sodann in
den Mittelpunkt des Interesses. In kulturwissenschaftlicher Exegese
kontrastierte sie Benjamins Betrachtungen des kollektiven Wahnsinns in
der Moderne mit Max Webers Rationalisierungstheorie einer entzauberten
Welt. Um die genaue stadträumliche Verortung einer wegweisenden
kulturellen Modernisierung bemühte sich dagegen DEBBIE LEWER (Glasgow)
in ihrem Paper über die Anfänge des Dadaismus in der “schizoiden Stadt”
Zürich.

Im Mittelpunkt des letzten Panels stand die Verbindung von Fotografie
und Großstadt als “Labor der Moderne”. ANJA HERRMANN (Berlin) beschrieb
am Beispiel der außergewöhnlichen fotografischen Selbstinszenierung der
Gräfin von Castiglione eine kurze Frühphase des künstlerischen
Experimentierens mit Darstellungsformen und Geschlechterrollen, bevor
die Portraitfotografie in Konventionen erstarrte. Mit der Repräsentation
des sozial Anderen in der Fotografie und im Film beschäftigte sich
ELISABETH FRITZ (Granz/Wien). Dabei ging es ihr vor allem um die
jeweiligen Authentifizierungsstrategien, die von den Bildproduzenten
gewählt wurden, um ihren Reisen durch die großstädtischen
Elendsquartiere den Anschein des Wahrhaftigen zu verleihen. BURCU
DOGRAMACI (München) stellte schließlich drei Fotobildbände vor, die das
Bild der Großstädte Paris, Berlin und New York in den 1920er- und
1930er-Jahren prägten.

Die inhaltliche und methodische Heterogenität des Workshops eröffnete
einige neue Perspektiven auf die Heterotopien der modernen Großstadt um
1900, etwa auf das Schaufenster als Schwellenraum. Bemerkenswert waren
zudem die differenzierenden Befunde zur zeitgenössischen
Großstadtkritik. Dagegen blieben die sozialen Topologien der Stadt etwas
unterreflektiert. Das lag auch daran, dass die historischen Akteure
häufig nicht ernst genommen wurden, was vor allem für die
Erfahrungsdimensionen und die agency der einfachen Zeitgenossen gilt.
Stattdessen drehte sich die Diskussion oft um Fragen der Repräsentation
und um “verrückte Evidenzen”, die einzig Aussagen über die bürgerlichen
Beobachter zuließen. Doch nicht nur sozialräumliche Topographien
innerhalb der jeweiligen Großstädte kamen zu kurz, auch die Unterschiede
und Transfers zwischen den einzelnen Metropolen wurden kaum
thematisiert. Es blieb meist bei kursorischen Stadtbeispielen, die nicht
näher zueinander ins Verhältnis gesetzt wurden. Der “Eigenlogik der
Städte” (Martina Löw) wurde der Workshop somit nur selten gerecht.

Offen blieb schließlich auch die Frage nach dem Wahnsinn, der zumeist
eher assoziativ verwendet wurde und in einigen Vorträgen gar nicht
vorkam. ARMIN SCHÄFER (Berlin) räumte als Mitglied der Forschergruppe
selbst ein, das der Begriff eine unbestimmte Semantik habe. Dem Wahnsinn
fehle der semantische Kern. Vielleicht lag es aber auch an der recht
breiten Fragestellung des Calls und am unspezifischen Titel des
Workshops, dass der Wahnsinn als großstädtisches Schwellenphänomen
letztlich kaum Konturen annahm. Die Schwierigkeit, den Wahnsinn
analytisch zu fassen, ist jedoch für sich schon ein beachtenswertes
Ergebnis, das gut zu dem experimentellen Werkstattcharakter des
leseintensiven und diskussionsfreudigen Workshops passt.

Konferenzübersicht:

Beate Binder, Sabine Fastert, Volker Hess (Berlin): Begrüßung /
Einführung

Kaspar Maase (Tübingen): “Disziplinlosigkeit des Wissens”. Verwirrende
Wahrnehmungen der Stadträume um 1900.

Eva Krivanec (Wien): Frei/Zeiten des Kriegs. Urbane Vergnügungen im
Ersten Weltkrieg.

Susanne Businger (Zürich): “Die Verführung lauert an allen Ecken und
Enden.” Kinematographen und Bars mit ‘Champagnerboxen’ als neue
städtische Begegnungsräume und geschlechtsspezifische Zuschreibungen um
1900 in Luzern.

Gabriele Dietze (Berlin): Kommentar und Diskussion

Nina Schleif (München) / Christof Windgätter (Wien/Berlin): Vor dem
Schaufenster. Von Wahn und Sinnen des modernen Subjekts.

Barbara Knorpp (London):’Natur’ und ‘Kultur’ hinter Glas.

Sophia Könemann (Berlin): Kommentar und Diskussion

Avi Sharma (Chicago): Degenerate City: Public Health and Popular Reform
in Wilhelmine Germany.

Steffen Krämer (München): Entartung und Urbanität. Die europäischen
Entartungstheorien ab der Mitte des 19. Jahrhunderts und ihre Kritik an
der modernen Großstadt.

Eric Engstrom (Berlin): Kommentar und Diskussion

Daniel Morat (Berlin): “Automobile gehen über mich hin.” Urbane
Dispositive akustischer Innervation um 1900.

Joanna Kusiak (Warszawa): Metropole und Traum – materielle Betrachtung
des kollektiven Wahnsinns.

Debbie Lewer (Glasgow): Dadas Schauplätze und die ‘schizoide Stadt’
Zürich.

Thomas Beddies/Armin Schäfer (Berlin): Kommentar und Diskussion

Anja Herrmann (Berlin): Chez le photographe. Vom Verwirrspiel im
Fotostudio.

Elisabeth Fritz (Graz/Wien): Die dunkle Seite der Stadt. Authentische
Erfahrung und Erfahrung des Authentischen bei der Präsentation sozial
Anderer in Fotografie und Film (1880-1935).

Burcu Dogramaci (München): Metropolen im Buch – Großstadtfotografie in
den zwanziger und dreißiger Jahren.

Dorothea Dornhof (Berlin): Kommentar und Diskussion

Beate Binder, Sabine Fastert, Volker Hess (Berlin): Abschlussdiskussion
/ Fazit

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